Lust, Rausch und Crystal Meth! Am 9. Mai kam Karl Anton Gerber ins Sub und begleitet die Lesung des US-Sexualtherapeuten David Fawcett. Er spricht aus der Perspektive eines Ex-Users. Wir haben ihn gefragt, warum gerade Schwule Gefallen an Chemsex finden, wie schnell man abhängig wird und wieder von Crystal loskommt. Karl hat anfangs auf Sex verzichtet, um das zu erreichen.
Keine repräsentativen. 2010 und 2017 wurde europaweit der "European Men Who Have Sex With Men Internet Survey (EMIS)" durchgeführt, an dem Männer nicht nur aus der EU, sondern allen europäischen Staaten inklusive Russlands teilgenommen haben. Und 2018 gab es in Deutschland den "German Chemsex Survey“, den die Deutsche Aids-Hilfe mit Daniel Deimel von der Katholischen Hochschule in Aachen durchgeführt hat. In der EMIS haben für ganz Europa etwas über 3 Prozent der Befragten angegeben, im Jahr davor mindestens einmal Crystal Meth konsumiert zu haben. Im Gay Chemsex Survey 2018 waren es gute 8 Prozent.
Wie immer gibt es auf diese Frage keine eindeutige und für alle Konsumenten gültige Antwort. Ich will der Lesung nicht zu viel vorweg nehmen, aber so viel kann ich erzählen: Ich hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie Crystal Meth wirken kann: Sechs, sieben Jahre habe ich immer wieder Einzel- oder Gruppendates gehabt, in denen Meth konsumiert wurde.
Weil ich ebenfalls ziemlich genau ahnte, dass das genau meine Substanz sein könnte, habe ich es in all den Jahren geschafft, Nein zu sagen. Bis ich dann eines Tages diesen tollen Typen, den ich schon von zig Gruppen-Dates kannte, endlich mal allein treffen konnte. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich mit ihm endlich zusammenkommen würde, wir gemeinsam alt werden, wenn ich nur mit ihm "fliegen" dürfte.
Für den weiteren Konsum war sicher auch die selbstbewusstseinsstärkende Wirkung wesentlich: Die untrainierten 96 Kilo waren mir im Konsum genauso egal wie meinen grauen Haare und die mit über 50 nicht mehr ganz so straffe Haut. Mit ner Viagra (anfangs) oder ner Androskat-Spritze (ziemlich bald) war auch die Erektion und damit die sexuelle Leistungsfähigkeit gesichert.
David beschreibt in seinem Buch ein paar Erfahrungen, die jeder schwule Mann macht, und die neben erhöhter Anfälligkeit für Suizidalität, Angststörungen, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen eben auch zu Substanzkonsum führen können:
Es gibt Menschen, auch in meinem Umfeld, die ihren Konsum zum Beispiel auf die CSD-Partys in der Pride-Saison beschränken können. Für sie hat der Konsum aber auch nicht unbedingt etwas mit Sex zu tun.
Die erheblich süchtig machende Wirkung liegt in der Kombination zweier Auslöser, die Dopamin ausschütten: Sex (ohne Konsum) ist von allen menschlichen Aktivitäten diejenige, die das Gehirn (und hier das limbische System) mit der höchsten Dopamin-Ausschüttung belohnt, nämlich ungefähr dem 200-Fachen des Standard-Niveaus. Kokain (ohne Sex) bringt ungefähr die 350-fache Menge Dopamin. Dann kommen die anderen künstlichen Stimulanzien (Amphetamin, MDMA, Mephedron, 3mmc, 4mmc). Mit der etwa 1.100-fachen Dopamin-Ausschüttung liegt Crystal Meth „ungeschlagen“ an der Spitze.
Kombinierst Du also Sex - 200 mal mehr als normal - mit Crystal - 1.100 mal mehr -, erlebt das Gehirn eine so unvorstellbar hohe Belohnung, dass die Verlinkung zwischen Sex und Konsum häufig ganz schnell entsteht. Ich würde als Laie und Exkonsument vielleicht nicht von einer direkten Abhängigkeit sprechen, aber von mir selbst weiß ich, dass Sex ohne Konsum für mich sehr schnell fade und langweilig wurde. Und so berichten es auch andere. Der Übergang zur Abhängigkeit ist da fließend.
Auch hier wieder: unterschiedlich. Für mich hat sich meine Sexualität verändert. Anfangs war ich ganz top (dank Viagra, Androskat und Co.), zuweilen auch dominant. Und irgendwann wurde ich zum sehr devoten Bottom mit Vergewaltigungsphantasien.
Anfangs empfand ich für meine Date-Partner tiefe Zuneigung und glaubte, eine Verbindung zu jedem Einzelnen spüren zu können. Mit dem Wechsel in die Bottom-Rolle wurden mir meine Partner zunehmend egal, wenn sie mich nicht vollständig befriedigen konnten. Und das konnte irgendwann auch kein noch so großer Schwanz mehr! Da habe ich sie genauso rausgeschmissen oder zuhause sitzen lassen, wie ich vor die Tür gesetzt oder allein gelassen wurde.
Ansonsten äußert sich eine Abhängigkeit natürlich allein in der zeitlichen Dimension, die für den Konsum und die Vorbereitungen aufgewendet werden muss: Dates klarmachen zieht sich, im Konsum (also nachts) nochmal mehr, weil das Zeitgefühl einfach total flöten geht, und du manchmal drei, vier Stunden chattest, bis überhaupt ne Telefonnummer oder Adresse ausgetauscht wird. Die Beschaffung bei dem einen oder anderen Dealer kann auch schon mal länger dauern. Mal ist kein Stoff mehr da. Und dann muss die Zeit auch passen, um sich treffen zu können.
Es spielt ja noch ein anderer Faktor mit hinein, das plastische, also formbare Gehirn: Unser Gehirn lernt permanent, egal wie alt wir werden. Und lernen heißt: Das Gehirn schafft neue neuronale Bahnen, also echte physische Nervenleitungen. Mit jedem Konsumerlebnis wird die neuronale Bahn zwischen Sex und Konsum verstärkt. Sex ist irgendwann nicht mehr ohne Konsum vorstellbar und jeder kleinste Gedanke an Konsum löst gleichzeitig sexuelles Verlangen aus.
Für Angehörige, nicht-konsumierende Partner und Freund*innen ist die Situation eine Riesenherausforderung. Ich denke, am wichtigsten ist für sie, nicht in eine Co-Abhängigkeit zu geraten. Also zum Beispiel den Konsumenten nicht immer und immer wieder gegenüber Freund*innen oder Arbeitgeber*in zu decken. Oder das Thema in der Partnerschaft, der Freundschaft, der Familie immer weiter zu umschiffen, obwohl der Elefant im Raum immer größer wird.
Wenn darüber gesprochen wird, sind allerdings Vorwürfe und Schuldzuweisungen nicht hilfreich. Angehörige, Partner und Freund*innen müssen sich immer wieder bewusst machen, dass eine Sucht eine Erkrankung ist.
Das Verhalten des Konsumenten ist also geprägt durch die Abhängigkeit. Der Eindruck: "Der ist nicht mehr er selbst" stimmt ganz sicher. Zum Selbstschutz vor der Co-Abhängigkeit gehört es auch, die eigenen Grenzen als Angehöriger zu kennen und klar zu setzen.
Bei der Entwöhnung sollte es auch darum gehen, die oben beschriebene neuronale Bahn nicht mehr zu bedienen, also dass Sex und Konsum für das Gehirn unbedingt zusammengehören. Anfangs bedeutet das absolute sexuelle Enthaltsamkeit, also auch auf Masturbation zu verzichten.
Und wenn man sich dann irgendwann langsam wieder sexuell betätigen möchte, schlägt David Fawcett vor, sich zunächst auf den eigenen Körper zu konzentrieren, um im Hier und Jetzt zu bleiben und nicht sexuellen (Konsum-)Erinnerungen oder (Konsum-)Phantasien den Raum zu geben.
Hier liegt sicherlich nicht nur für Behandler*innen eine besondere Herausforderung, sondern für den Konsumenten auch. Sexualität gehört für viele schwule Männer zur schwulen Subkultur einfach dazu. Sexualität bedient Bedürfnisse wie Selbstbestätigung, Entspannung, Zugehörigkeit, Verbundenheit und noch etliche mehr. Darauf zu verzichten, bedeutet, sich Alternativen suchen zu müssen. Denn die Bedürfnisse haben ja ihre Berechtigung.
Einen Punkt, über den wir bei SHALK, meiner Selbsthilfegruppe, zu dieser Frage immer wieder sprechen, ist die so genannte Abstinenzentscheidung. Viele glauben, es reicht, sich dafür zu entscheiden, einfach nicht mehr zu konsumieren, aber ansonsten das Leben unverändert fortsetzen zu können.
Diese Ansicht beruht auf der Annahme, eine Substanzabhängigkeit sei allein durch Willenskraft in den Griff zu kriegen. Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, dass Willenskraft keine endlos und jederzeit verfügbare Ressource ist.
Für viele ist es auch unvorstellbar, auf liebgewonnene Freizeitaktivitäten wie den Club-Besuch am Wochenende oder den Sauna-Abend verzichten zu müssen. Bei manchen besteht der gesamte Freundeskreis aus Konsumenten, mit denen sie eine Freundschaft verbindet. Auf Konsum zu verzichten, heißt für viele deshalb auch, sich verabschieden zu müssen von Freunden, von Gewohnheiten. Gerade bei Jüngeren habe ich erlebt, wie es sie zerreißt, und sie (noch) nicht bereit sind für diese sehr spezielle Trauerarbeit.
Und dann, siehe oben, geht es um die Frage: Was mache ich denn mit der gewonnenen Zeit? Wie befriedige ich meine berechtigen Bedürfnisse nach Sexualität, nach Körperlichkeit, nach Nähe, nach Zerstreuung, Entspannung, Selbstbestätigung? Da geht es im Kern drum: Was macht mich im tiefsten Innern denn wirklich glücklich? Und wie kann ich das erreichen?