Das Thema Chemsex findet kaum im öffentlichen Diskurs statt. Vielleicht liegt es daran, dass Themen wie Drogenkonsum und Sexualität im privaten verhandelt werden sollen? Vielleicht liegt es auch daran, dass das Thema Chemsex sehr komplex und zum Teil auch schwer zugänglich daher kommt? Wir sind gespannt uns diesen und noch weiteren Fragen im Zuge der nächsten Männerakademie am 12.11.19 um 19:30 Uhr gemeinsam mit Dr. Martin Viehweger zu nähern. Im Vorfeld zu der Veranstaltung haben wir Dr. Viehweger ein paar Fragen gestellt, die er folgendermaßen beantwortet hat.
Chemsex – Zeit darüber zu sprechen!
Mit Dr. Martin Viehweger, Berlin
Was meint der Begriff Chemsex eigentlich?
Der Begriff, der im anglikanischen Raum seit ca. 2004 wird in Deutschland seit 2009 benutzt. Chemsex beschreibt die Einnahme von bestimmten chemischen, psycho-aktiven Substanzen, wie Crystal Meth, Mephedron oder Gammabutyrolactone zur Erweiterung der eigenen Sexualkultur. Die Verbreitung vollzog sich parallel zu den bzw. innerhalb der Netzwerke und Online-Dating-Foren, vornehmlich bei Männern, die Sex mit Männern haben. Chemsex ist auch Resultat eines veränderten Umgangs mit Technologie, wie Dating-Apps oder -Foren. Einerseits erleichtern diese nicht nur die Verfügbarkeit von Sex sondern auch die von Chemsex Substanzen.
Warum konsumieren schwule Männer* Chemsex-Substanzen?
In erster Linie nehmen schwule Männer* diese Substanzen um die sexuelle Hemmschwelle zu mindern, die Steigerung des Lustempfindens zu erreichen sowie um den Sexualakt zu verlängern. Die Euphorisierung steht oft im Kontrast zu einer Pseudo-Intimität: intime Handlungen werden unter dem Einfluss von Drogen akzeptiert, die sonst nicht zugelassen werden.
Zusätzlich wird der Konsum sexuell stimulierender Substanzen begünstigt durch Promotoren wie das Austesten von Grenzen, Eskapismus, Abwehr sozialen Leistungs- und Lebensoptimierungsdrucks sowie Competition, Kompensation von sozialen oder persönlichen Konflikten, Abwehr der abstumpfenden Eintönigkeit bzw. der alltäglichen Normativität.
Als Entaktogen werden psychoaktive Substanzen bezeichnet, unter deren Einfluss die eigenen Emotionen intensiver wahrgenommen werden. Der Substanzkonsum vor dem Sex verringert das Schamgefühl, erhöht den sexuellen Appetit – auch „sexdrive“ genannt – und verlängert das Lustempfinden. Er befähigt die Konsumierenden spezielle sexuelle Praktiken – oder auch Kinks genann – zu liberalisieren.
Was sagt das Problem ChemSex über den Zustand der Community?
Viele Studien zeigen, dass Männer, die Sex mit Männern haben, früh zu einer vulnerablen Gruppe für gesundheitliche Risiken anvancieren. Kommt es zum Phänomen Chemsex, so werden in Gesprächsgruppen oftmals eigene homophobe Anteile von Usern thematisiert: Vermeintlicher Druck subkultureller Zugehörigkeit bei negativem Selbstbildnis und schuldhaftes Erleben der Andersartigkeit sind hierbei nicht selten. In der Community wird vermehrt ein leistungsorientiertes Verständnis von Sexualität als mehrheitlich penetrativen Akt wahrgenommen, der den Konsum von Chemsex Substanzen begünstigt.
Was kann das Umfeld tun, wenn bei Freunden*innen oder Angehörigen Probleme bemerkt werden?
Grundlegend besteht die Frage, wann der Gebrauch von Chemsex Substanzen zu einem Über-bzw. Missbrauch wird. Derzeit bestehen Möglichkeiten der Aufklärung und Beratung für User vor allem in niedrigschwelligen Angeboten der schwulen Community bzw. der Selbsthilfe. Diese Angebote sind besonders wertvoll in Verbindung mit dem Zugang zu kostenfreien STI-Testungen und anonymen Substanzchecks. Bei entsprechenden Hinweisen auf Substanzkonsum sind aus ärztlicher Sicht eine vollständige Anamnese einschließlich Sexual- und Drogen-Anamnese sowie ein initiierendes Beratungsgespräch erforderlich. Die Atmosphäre hierbei sollte wertschätzend und vorurteilsfrei sein.
Mit freundlicher Unterstützung der Münchner Regenbogen-Stiftung.